Handlungsort/ Setting: Deutschland, Bonn
Projizierter Ort/ Projected place: Bulgarien, Russe, Drushba, Veliko Tarnovo
Handlungszeit/ Time of action: 1970er Jahre
Route: Osten-Westen
Marker: keine
Frankfurter Flughafen
“Mitten im Herzen des Kapitalismus! Ach, wie duftet mir der verfaulende Kapitalismus! (…) Ich kann nirgendwo Menschenschweiß riechen, die Böden des Frankfurter Flughafens, die Wände, die Reisenfenster – sie alle duften nach sauber. (…) Keiner schlägt mir auf die Schulter. Keiner empfängt mich mit nassen Küssen, Zwiebelatem und dem Versprechen, mich direkt zu besuchen (…) Engländer, Franzosen, Amerikaner, Afrikaner, Australier und sonstige freie Bewohner dieses Planeten – sind schon alle da, wo alle Bulgaren, Russen, Tschechoslowaken, Polen und sonstige Ostblöcker hin wollen und nicht können.“ (S. 7)
„Alle Deutschen, Männer, Frauen und Kinder, im Frankfurter Flughafeb sehen aus, als hätten sie gerade in diesem Moment das Badezimmer verlassen: selbstzufrieden, sauber und fröhlich.“ (S. 8)
„Die Welt glänzt plötzlich und ist schrecklich bunt: Reklame, Reklame, Reklame!“
„Hier fordert man mich von allen Wänden und Reklameschildern auf, verschwenderisch zu sein, auf die Pauke zu hauen, Geld auszugeben!“ (S. 9)
„Mein zweiter Eindruck vom Flughafen: die deutsche Nation hält zusammen und verteidigt ihre Demokratie! Auf Plakaten an der Wand prangen verschiedene Gesichter.“ (S. 15)
„Während ich erneut die Halle des Frankfurter Flughafens in Gedanken durchquerte, bei euch in der zivilisierten Welt wartet man nich ein halbes Millenium, um die Freiheit zu verteidigen! (…) Dabei fällt mir plötzlich die Werteverschiebung in meinem Bewusstsein auf.“ (S. 19)
„Aus der großen Garage des Frankfurter Flughafens heraus fahren wir auf die Autobahn (…) Richtung Köln.“ (S. 21)
Grenze
„Ich schwitze vor Aufregung. (…) Der Zöllner am Ausgang, olivgrün gekleidet wie ein bulgarischer Förster, freundlich und erschütternd frisch duftend, heißt mich lächelnd willkommen, als ich samt Gepäckwagen und vorsintfluchtlichem braunen Koffer aus Presspappe an ihm vorbeigleite.“ (S. 8)
Bulgarien Russe
Meine bulgarischen Freunde und Verwandten fragen mich seit unserer Hochzeit, wieso ich eigentlich keine weißen Hosen und Röcke, keine pastellfarbenen Blusen und keine blondierten Toupier-Frisuren trage, wie es sich für eine Deutsche gehört. Komisch, was meine Landsleute für Vorstellungen von den Deutschen haben!“ (S. 8)
„Ich war ein braves, fünfzehnjähriges, unanständiges Mädchen, tüchtig in der Schule, Absolventin der preparatory class der English Language Politechnical School in Russe an der Donau, zu Zeiten der Osmanen Rutschuck genannt.“ (S. 9)
„Elias Canettis „Stadt der geretteten Zunge“ (…) Hier herrscht dicke Luft aus dreißig Fabriken, Gerbereien, Webereien und Chemiebetrieben. Die Lungen der Menschen und die Blätter der Kastanienbäume sechs Etagen unter meinem Fenster werden von dieser Hitze regelrecht versengt.“ (S. 10)
„Die Umrisse der Wände mit den lichtdurchfluteten, realistischen russischen Schischkin-Landschaften verschwimmen vor meinen Augen.“ (S. 10)
„Als Alexander damals 1968, (…) unseren Plan, über die Grenze nach Jugoslawien in den Westen zu fliehen, einfach verworfen hatte, arbeitete er nach Abschluss des Kunstgymnasiums in Sofia ein Jahr lang in der Konservenfabrik „Dunavija“ in Russe an der Donau und sortierte faule Tomaten, genau wie wir Abiturientinnen und Abiturienten des englischsprachigen Gymnasiums.“ (S. 11)
„Mein Großvater ein enteigneter Großgrundbesitzer gewesen sei.“ (S. 13)
„Stadtrandhäuschen in Russe, von außern mit Pferdemist verputzt und mit runden türkischen Ziegeln gedeckt. Genau wie die Häuser der Türken und Zigeuner in einer jener Straßen außerhalb der „richtigen“ Stadt, wie meine Eltern behaupten, die stolz darauf sind „richtige“ Städter mit einer modernen, aber aus Ziegeln und nicht aus Beton errichteten Eigentumswohnung im Zentrum zu sein. Dort, am nordwestlichen Ende der Stadt, wo es weder Ordnung noch Disziplin, geschweige denn Geld, fließendes Wasser und normale Toiletten in den Häusern gibt.“ (S. 16)
„Onkel Stanscho schuftet seit einem dreizehnten Lebensjahr auf dem Bau und gehört immer noch zum ärmsten Proletariat, auch fünfundzwanzig Jahre nach dem Einzug der Roten ins Rathaus.“ (S. 17)
„Der Wolga war damals nicht nur für mich der Inbegriff von südöstlich-europäischem Luxus. Der Wolga war der Mercedes unter den einheimischen, im Ostblock produzierten Pkws.“ (S. 23)
„Bei uns zu Hause sind alte Häuser dunkel, schmuddelig und riechen nach Moder.“ (S. 28)
Deutschland
„Wir kriechen durch enge Gässchen an kleinen hubbeligen, schwarz-weißen Brüder-Grimm-Häuschen vorbei (…) und freue mich an den Zwerglein und Männchen in den rheinischen Vorgärten. Und was für niedliche Rüschen-Gardinchen an den kleinen Fensterchen prangen! (…) Vor einem Moment auf den anderen verwandelt sich mein Bräutigam (…) erneut in einen Fremden, noch schlimmer, in einen fremden Deutschen.“ (S. 25)
„Wie schaffen es die Deutschen bloß, alles so sauber zu halten? (…) die klar gezogene Linie am Wegesrand anschaue und an das natürliche Chaos auf unseren bulgarischen Straßen denke, an die Schlaglöcher in der Fahrbahn.“ (S. 26)
Bonn
„Ich würde gern selbst über mich lachen, aber mir ist während der ganzen ersten Fahrt von Frankfurt nach Bonn immer wieder zum Weinen zumute.“ (S. 27)
„Die weiße Villa in der Rheinalle, Schwester unzähliger weißer, beige-, linden-, grün-, hellblau-, helllila- und sogar rosafarbener Villen (…) Im Bauch der Villa ist es angenehm kühl und erschütternd sauber (…) Das Treppenhaus der Villa erstreckt sich über drei Etagen.(…) Das Badezimmer ist zweimal so groß wie das Schlafzimmer meiner Eltern und fast spartanisch eingerichtet, was beruhigend auf mich wirkt: Weiß, Himmel- und Dunkelblau sind die vorherrschenden Farben.“ (S. 28-29)
Drushba
„Wir fuhren zu dritt ans Meer, nach Drushba, das früher St. Konstantin und Elena hieß, dort wo der frühere Zarenpalast am grünen Ufer träumte. Im Pionierlager daneben hatte Vater Dienst, in den Ferien stieg er vom Sportlehrer zum Leiter des Pionierlagers auf.“ (S. 10)
„Nach und nach füllte sich der Strand mit Urlaubern. Deutsch, Polnisch, Tschechisch, Russisch, Rumänisch, gelegentlich sogar Französisch und Englisch waren zu hören. Die große Welt war hier versammelt.“ (S. 11)
Veliko Tarnovo
„Alexander erst einmal Malerei an der Kunstankademie in unseren alten Hauptstadt Veliko Tarnovo studierte.“ (S. 11)