Handlungsort/ Setting: Bonn
Projizierter Ort/ Projected place: Sofia
Route: Westen – Osten
Handlungszeit/ Time of action: Dezember
Marker: die Tschechoslowakei
Bad Godesberger Theaterplatz in Bonn
„Seit dem 26. November weihnachtet es auf dem Bad Godesberger Theaterplatz und drum herum laut, feuchtfröhlich, vorwiegend nach Grillwürsten zum Himmel stinkend und nicht ganz billig: der Weihnachtsmarkt wurde eröffnet.“ (S. 8)
Bonn
„Wo es einige wenige gibt, die auf Geschenkpapier verzichten – der Natur zuliebe. Zurück zu diesem Wunderland, in dem sogar berufstätige Mütter zusammen mit ihren Kindern gern Weihnachtsplätzchen backen, während in Bulgarien dies fast ausschließlich die Großmütter tun! Ja, das Zittern unterm Rippenbogen ist plötzlich wieder da: Ich kann es kaum abwarten, zurück nach Hause in mein Fremdland namens Deutschland zu kommen.“ (S. 13)
Bulgarien
„Komisch, in meiner Heimat Bulgarien, im Land der berufstätigen Mütter und Frauen, hat es mich nie gestört, dass wir überall bis 22 Uhr oder rund um die Uhr einkaufen konnten! Einkaufen war dort nie ein Vergnügen. Es war Synonym für Warten. Es war ein notwendiges Übel, das man immer zwischendurch und im Vorbeigehen erledigte. Wenn das, was man suchte, da war. Einkaufen war dort auch eine Strapaze. Denn es gab zu Kommunistenzeiten nichts, aber auch gar nichts, wofür man nicht lange anstehen musste: Brot, Zucker, Fisch.“ (S. 8)
„Fast zwanzig Jahre lang standen meine Eltern auf einer sozialistischen Liste für ein Auto an und warteten geduldig, in den Genuss ihrer erträumten Bewegungsfreiheit zu kommen, d.h. mit dem eigenen PKW von der Stadt ins Dorf fahren zu können.“ (S. 9)
„Weihnachten schmeckte nach Orangen und Bananen – die kostbarsten Früchte der Welt! Echtes Kind meiner sozialistischen Zeit, empfing ich Weihnachten am besten über den Geschmackssinn.“ (S. 10)
„Seit der Wende kann man in Bulgarien genau so gut einkaufen wie überall auf der Welt. Niemand wartet mehr. Die Zeiten haben sich geändert. Früher warteten die Käufer auf die Ware, liefen ihr nach, ja, wenn es notwendig war, fuhren sie ihr sogar nach!“ (S. 11)
„In meiner Heimat Bulgarien wird heute vor allem gekauft – am liebsten ausländisch. Es war schon immer so. Die Kauflust bis ins Unerträgliche steigern – das haben die Kommunisten über fünfzig Jahre lang getan. Jetzt ernten lauter Kaufländer und Billas die Früchte dieser Lust.“ (S. 12)
„Ich wohnte bei Oma im Dorf, und meine Eltern wohnten und arbeiteten in der Stadt. Bei Oma war ich nie allein. Dort gab es in der Vorweihnachtszeit vor allem Schlangestehen und Warten – auf Orangen und Bananen. Wir standen lang an, die Zeit ging uns nie aus.“ (S. 26)
„Glücklich und mit durchgefrorenen Nasen, Händen und Füßen kehrten wir beide nach Hause zurück. Ich saß auf dem Schlitten, den er den ganzen Weg zog, und alle, die wir unterwegs trafen, beneideten mich: zwei alte klapperige Lastwagen, die im Vorbeifahren mehrere Zuckerrüben hinter sich verstreuten, einige Elstern und Raben, und drei Betrunkene aus der Frühschoppen-Riege meins Großvaters.“ (S. 27)
„Ich verbiete ihr, weiter zu stricken. Von da an gibt es aus Bulgarien nur noch Eingemachtes als Geschenk.“ (S. 34)
„Ich erinnerte mich: Ich war nicht älter als drei, als mich meine Eltern bei einer Hochzeit in einer bulgarischen Dorfkneipe unter den Klängen eines Tangos zwischen sich pressten und, eng umschlungen, Wange an Wange, zusammen mit mir tanzten.“ (S. 39)
„bulgarische Begräbnisse sind genauso teuer wie Hochzeiten oder Wehnachtsfeiern. Da kommen mindestens so viele Freunde und Cousinen 25sten Grades zusammen, wie Raben und Elstern an den frisch ausgehobenen Gräbern. Und sie alle miteinander haben eines gemeinsam: sie sind hungrig und wollen beschenkt werden!“ (S. 48)
Sofia
„Ich fliege mit deutschen Flügeln nach Sofia. Zu Hause erwartet mich niemand. Heute, am 2. Advent, weiß ich, dass ich endlich kein Kind mehr bin. Ich erwarte nichts mehr. Auf dem großen Holztisch – kein Gruß, kein frischgebackenes Stück Schafskäsekuchen – Mutters weltberühmter Banitza, keine betörend nach Bohnenkraut und Estragon duftende heiße Hühnersuppe, kein selbstgebackenes Fladenbrot. Sie sind beide tot: Mutter und Vater.“ (S. 11)
„Und mitten im Flug nach Sofia zieht sich mein Herz zusammen: Ich möchte zurück nach Deutschland, zurück nach Bonn. Dorthin, wo das Einkaufen schon so lange selbstverständlich ist.“ (S. 12)
„Ich traf jemanden, der mir sogar zurück nach Sofia folgen wollte. Und das, obwohl Bulgarien damals noch nicht mal in der NATO, geschweige denn in der EU war!“ (S. 39)