Handlungsort/ Setting: Deutschland
Projizierter Ort/ Projected place: Dorf Bulgarien
Route: Westen – Osten
Handlungszeit/ Time of action: 1990er Jahre (1996)
Marker: Köln
das Dorf in Bulgarien
„Sie stand am Fuße des steilen Hangs, der zum Gipfel hinaufführte (…) Die Ebene unter ihr drehte sich, als sie die Augen schloß (…) Die Radiostation kam zum Vorschein.“ (S. 7)
„Vielleicht wäre Mila niemals ins Dorf zu den Großeltern geschickt worden, wenn sie schon mit drei oder vier Gedichte geschrieben hätte (…) Wenn man ein Wunderkind hatte, da kümmerte sich sogar die Partei darum. Ein Wunderkind gab man nicht her, man schickte es nicht ins Dorf zu den Großeltern. Wunderkinder brauchen keine sieben Kilo Kamille zu pflücken, um ihre Schulbücher am Anfang des neuen Schuljahres bekommen zu dürfen.“ (S. 9)
„Sie gingen durch das schlafende Dorf: zwei Fremde am frühen Morgen. Die anderen Fremden schliefen noch. Sie wurden von den Bauern geringschätzig „Villaner“ genannt, wegen der Villen, die sie bauten. Spottbillig kauften sie den Bauern die Scheunen und die alten Häuschen ab und renovierten sie.“ (S. 21)
„In der riesigen Fabrikhalle zog es. Es roch nach faulen Tomaten und Schimmel. Das Quietschen des Fließbandes.“ (S. 21)
„Hinter ihr die Konservenfabrik. Vor ihr der Akazienwald.“ (S. 22)
„Mila betrat sein schäbiges Zimmer. Schuldgefühle. (…) Ein alter Kühlschrank, ein Waschbecken mit ungespülten Tellern, ein Ölbild, das auf dem Schrank neben dem Käse aufgestellt worden war.“ (S. 71)
der Balkan
„und das Panorama des ganzen Balkangebirges auf einen Blick umfaßte: die Ebene bis nach Trojan, bis nach Plovdiv, bis Gabrovo und tiefer ins Tal. In der Ferne blickte das Dach des Jagdhäuschens, in dem Shiwkov auf die Bären gewartet hatte.“ (S. 14)
„Und diese Welt reichte bis über den Balkan, bis über die Donau und sogar bis über die Sonne hinaus, bis zur Stadt der geretteten Zunge“ (S. 24)
„(die deutschen Gäste fragten) ob wir eine Spülmaschine haben, was für ein Auto wir fahren, wie lange man von Frankfurt nach Sofia fliegt, wieviel ein Paar Kinderschuhe kosten, wo wir in Urlaub gewesen sind.“ (S. 36)
„und dem Leib des Balkans entstieg ein wehmütiges, ein Haiduckenlied.“ (S. 69)
das Englischsprachige Gymnasium
„Keine Chance ins Englischsprachige Gymnasium aufgenommen zu werden. Sie wollte schon gehen, sah sich im Spiegel an der Wand, wie im Ballettsaal. Eine verstaatlichte Jugendstilvilla mit hohen Fenstern und Parkettboden. Mila atmete den Duft nach Bohnerwachs, der etwas schrecklich Feines und Nichtkommunistisches an sich hatte.“ (S. 20)
„Die Kastanienbäume im Park belagerten das Gymnasium mit herbstlich beharrlicher Schönheit. Die Luft zwischen Erde und Baumkronen war aus purem Gold. Das Fluidum dieser Farbe erfüllte den Raum zwischen Erde und Baumspitze.“ (S. 25)
Russe
„Und ihr schönes Mädchenzimmer in der sechsten Etage mit Blick über die Dächer von Russe wartete eine Woche lang auf sie. Erst am Samstagnachmittag durfte es von Mila besichtigt werden. Die ganze Woche über schlief Mila im Internat. Um das Unglück zu vervollständigen, hatte Mila Heimweh: das Dorf, Maminka und Djado, das Schwein, der Hahn, die Hauskaninchen, die Stille im Hof. Sie hatte sogar Sehnsucht nach dem blöden Kamillepflücken, das für sie damals zum Alptraum geworden war: sieben Kilo in drei Monaten!“ (S. 32)
„In ihrer Stadt Russe gab es damals, Ende der sechziger Jahre, fast keine Hunde, die man ausführte – so etwas Kapitalistisches gab es nur in den Büchern der russischen und französischen Klassiker. Und im Kino. Nur die Schäferhunde, die waren schon immer dagewesen – wie dieser hier. Erst Mitte der siebziger Jahre entdeckten die Bürger Bulgariens den Hund als Schoßtierchen und Ersatzkind für sich – nach westlichem Vorbild (…) in den Ohren der Berufstätigen war Hausfrau-Sein etwas Peinliches, ein Überbleibsel aus dem alten kapitalistischen System.“ (S. 38)
„die Stadt der geretteten Zunge, in der es nichts mehr zu retten gab.“ (S. 45)
„Sie überließ sich dem Rütteln, während die Reifen des Krankanwagens über die kopfsteingepflasterten Straßen von Russe quietschten.“ (S. 53)
„Nach diesem Vorfall war sie nach Russe gefahren, hatte ihre Tatjana abgeholt und den Rest des Urlaubs am Meer verbracht. Alle Menschen, die die Möglichkeit hatten, die vergiftete Stadt im Sommer zu verlassen, fuhren entweder ans Meer oder ins Gebirge. Die Daheimgebliebenen fügten sich, arbeiteten weiter, wurden von Tag zu Tag kränker, verloren ihre Säuglinge, schimpften, haßten die Stadt, spuckten im Vorbeigehen auf die Marmorstufen des Parteigebäudes im Zentrum. Die Freiheitsstatue, eine Nachbildung der Freiheitsstatue in New York, segnete die Stadt, während ihr die Friedenstauben unentwegt ins Gesicht schissen.“ (S. 66)
„Es war ein schrecklich sauber und aufgeräumt, und noch niemand wußte, daß es bald ein Jahr der freien Fassaden geben würde. An den Gebäuden und über den Straßen prangten Aufforderungen zur Erfüllung des Fünfjahresplans (…) Der Boulevard Georgi Dimitrov, an dessen Ende die weißen Säulen des Bahnhofsgebäudes prangten, war fast noch unbefahren, nur die Busse fuhren hin und wieder vorbei. Die Bahnhofshalle, von der aus sie früher ins Pionierlager zur Erholung fuhr… An der Decke hing seit fünf Jahren die abgerissene Weihnachtsdekoration.“ (S. 81)
die Molkerei
„Wir hier in der Molkerei sind nur 25 Mann. Und seit 45 Jahren warten wir darauf, daß man uns eine elektrische Leitung legt. (…) Wir hier in der Molkerei machen den Schafskäse mit bloßen Händen, ohne Strom und jegliche Mechanisierung! Und unten in der Stadt schffen sie die gleiche Menge Käse nicht mal mit Elektrizität und 300 Leuten!“ (S. 35)
Bulgarien
„damals hieß der Stahlsarg Bulgarien (…) Im Stahlsarg von damals befanden sich das Englische Gymnasium und ihr Zuhause.“ (S. 38)
„das gute bulgarische Bier Zagorka gab es (…) bloß für die Kommunisten an der Spitze und für die Ausländer am Schwarzen Meer oder im westlichen Ausland reserviert.“ (S. 47)
Krankenhaus in Deutschland
„Ein Film aus mehreren Handlungssträngen lief in ihr ab: das Jetzt in Deutschland und in der deutschen Sprache, das Gestern in ihrer Muttersprache, das Land ihrer Kindheit, Achim, das Kind, die Eltern, das Radio, das Literaturbüro, die Kollegen, die Redakteure, die Publikationen, die ganze Palette der Sinneseindrücke (…) die Erinnerung an Freude, Hunger, das Essen, das Bärenfell. Mila schaute sich zum Wald um: eine Wand. Dunkel. Bedrohlich. Eine Flurwand im Krankenhaus. Während einer Filmvorführung im Korridor damals, die einzige Abwechslung im Krankenhaus.“ (S. 59)
„Jeder einzelne Tag in Deutschland erfüllte die Funktion eines solchen Teststreifens.“ (S. 62)
Köln
„Im Sommer 1996 strahlte der Westdeutsche Rundfunk in Köln in seiner Sendung „Kritisches Tagebuch“ Milas letzten Beitrag über Bulgarien aus.“ (S. 85)
Bonn
„Beide hatten das halbe Villenviertel durchquert (…) in dem glich kein Haus dem anderen. Wie sollte man die Häuser verwechseln, hier, wo jedes Haus eine Persönlichkeit war?“ (S. 96)
Sofia
„Bald wirst du offiziell nach Sofia eingeladen, zum Schriftstellerverband. Drei oder vier bedeutende Literaten.“ (S. 64)
„Sie hätte aus dieser verschlafenen Milizstation irgendwo in Sofia eine spannende Geschichte machen können. Aus dieser Geschichte hätte sie alles Mögliche machen können, wer hätte ihr das abgenommen?“ (S. 65)
„die Reise von Russe nach Sofia war ganze acht Stunden lang“ (S. 81)
„Im Hoztel Sofia, dieser Absteige für reiche Ausländer, Nutten und Mafiosi, fühlte sie sich nicht wohl.“ (S. 87)
„In jenen Siedlungen außerhalb der Hauptstadt, die Jugend 1 und Jugend 2 und Jugendsoundsoweiter hießen, in denen die Wohnblocks in langen, anonymen, eintönigen Reihen die Ebene durchquerten (…) Mladost … Ein Labyrinth aus neugebauten Wohnblocks, die alt und verschlissen auf die Welt kamen. (…) Mit der Zeit hatte die Anonymität der Häuser nachgelassen dank der Risse im Putz, der neu entstehenden Wasserflecken an den Balkons, der sich fleckenweise häutenden Wände. Dank ihrer Bewohner, die zu verschiedenen Zeiten verschiedene Wäsche aufhängten, dank der Gerüche, die von den zu Sommerküchen umfunktionierten Balkons drangen, der Gardinen und der immer andersartig zertretenen Glasflächen vor diesen Häusern.“ (S. 96)